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Wäre das schlimm?

Ein Vater reitet auf einem Esel und neben ihm läuft sein kleiner Sohn.

Da sagt ein Passant empört: "Schaut euch den an. Der lässt seinen kleinen Jungen neben dem Esel herlaufen".

Der Vater steigt ab und setzt seinen Sohn auf den Esel.

 

Kaum sind sie ein paar Schritte gegangen, ruft ein anderer:

"Nun schaut euch die beiden an. Der Sohn sitzt wie ein Pascha auf dem Esel und der alte Mann muss laufen".

 

Nun setzt sich der Vater zu seinem Sohn auf den Esel.

Doch nach ein paar Schritten ruft ein anderer empört: "Jetzt schaut euch die Beiden an. So eine Tierquälerei!".

 

Also steigen beide herab und laufen neben dem Esel her.

Doch nach einer Weile sagt ein anderer belustigt: "Wie kann man nur so blöd sein. Wozu habt ihr einen Esel, wenn ihr ihn nicht nutzt."

Eine Geschichte aus dem Buch „Der Kaufmann und der Papagei“ von Nossrat Peseschkian

 

„Allen Menschen Recht getan, ist eben eine Kunst, die niemand kann.“ 

Gehörst du auch zu denen, die es trotzdem immer wieder versuchen? Wir wünschen uns Bestätigung und fühlen uns schlecht, wenn andere mit unserer Entscheidung oder Meinung ein Problem haben. Deshalb versuchen wir, uns anzupassen, damit wir möglichst viel Bestätigung bekommen. Schnell kommt sonst das Gefühl des einzelnen schwarzen Schafes inmitten vieler weißer auf.

 

Siehst du dich aus der Sicht des Vaters? Dann wirst du wahrscheinlich das Gefühl von Ungerechtigkeit in dir spüren. Vielleicht bist du aber auch der Passant, dem man es nie recht machen kann? Möglicherweise kannst du dich auch sehr gut in beide Seiten hineinversetzen. Auf der einen Seite hören wir gerne auf das, was von außen an uns herangetragen wird, weil die meisten gerne angepasst leben und Kritik nicht wirklich mögen. Andererseits bewerten wir aber auch alles, was wir sehen nach unseren eigenen Maßstäben. So passiert es, dass mehrere Menschen das gleiche sehen und jeder Einzelne etwas ganz anderes wahrnimmt. Was für dich also etwas ganz Großartiges ist, kann für deinen Nachbarn schon ein extremes Ärgernis darstellen. 

 

Wisst ihr, was ich mir sage, wenn ich mich dabei erwische, es mal wieder allen Recht machen zu wollen, und doch von allen Seiten nur Ablehnung kommt? Ich sage laut zu mir: „ Wenn ich es schon nicht allen recht machen kann, dann wenigstens mir selber“. Dann überlege ich mir, was für mich und mein Leben das Beste ist und entscheide so, dass es mir gefällt. So weiß ich, dass zumindest eine mir sehr wichtige Person happy ist, nämlich ich Höchstselbst. Was? Du lässt dich nicht impfen? Das hätte ich von dir nicht erwartet. Du arbeitest in der Pflege, bist ständig mit Menschen zusammen, die gefährdet sind und sich anstecken könnten. Ich hatte dich immer vernünftiger eingeschätzt, du bist asozial. Denk doch mal an deine Verantwortung! Was? Du lässt dich impfen? Also das hätte ich jetzt wirklich nicht von dir gedacht. Du bist doch sonst so achtsam und stellst alles infrage! Du lebst vegan, kaufst im Bioladen ein, achtest darauf, was du zu dir nimmst und lässt dir dann dieses Gift in den Körper jagen?

Ich könnte auch noch andere Themen aufgreifen, zum Beispiel, ob du wählen gehst oder nicht, ob du dir einen Diesel kaufst oder ein E-Auto oder ob du 25 Grad angenehm oder eher zu kalt bzw. zu heiß findest. Merkst es? Wie du es siehst, ist ganz alleine deine Sache. Haben wir vielleicht verlernt, für andere Menschen oder Meinungen Verständnis zu haben?

 

Wir leben in einer Gesellschaft, die vor allem deshalb funktioniert, weil wir aufeinander Rücksicht nehmen, indem wir uns an bestimmte Regeln bzw. Gesetze halten. Doch bei Entscheidungen, die einen nur selbst betreffen, genügt es vollkommen, es sich selbst recht zu machen. Meine Strategie ist daher, die Meinung anderer nicht nur zu akzeptieren, sondern sie sogar für möglich und wahr zu halten. Das macht es mir leichter, bei meiner Meinung zu bleiben und genau so, sie zu ändern, wenn ich mehr oder eben neue Erkenntnisse gewonnen habe. Es ist ein sehr befreiendes Gefühl, anderen ihre Meinung zu lassen und seine eigene zu ändern, wann immer man Lust dazu hat. 

 

Wie wäre es, wenn du, anstatt die Meinung anderer zu bewerten, einfach Interesse zeigst, um zu verstehen, warum dein Gegenüber diese Meinung vertritt? Vielleicht, nein, ganz sicher sogar lernst du selbst etwas dazu. Möglicherweise könnte es deine eigene Meinung ändern. Wäre das schlimm? 

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